Everyone Is Necessarily the Hero of His Own Life Story.
Jon Barth: The Remobilization of Jacob Horner. 1958.
Diese Worte haben weitreichende Auswirkungen. Nicht nur für Bücher, auch für uns. In der Neurologie, geht man mittlerweile (teilweise) davon aus, dass unsere linke Gehirnhälfte teilweise die Funktion eines Erzählers übernimmt. Sie findet Erklärungen, Rechtfertigungen und Gründe für unser Handeln, dafür wie wir handeln und warum. So gesehen erzählt es eine Geschichte, keine ausgeklügelte, spannende, auch keine die einen Spannungsbogen oder Ähnliches hat, doch in gewisser Weise eben die Geschichte unseres Lebens.
Diese Erzählung bestimmt Vieles im Leben, zu großem Anteil auch unsere Erinnerung. Sie ist aber getrübt von Subjektivität und einem eingeschränkten Blickwinkel. Es gibt zahlreiche Beweise (zum Beispiel den Rashomon Effekt) dafür, dass unsere vermeintliche Rationalität, eigentlich nicht wirklich vorhanden ist, dass wir uns mit unserem Erzähler selbst belügen, dass wir unsere Geschichte abwandeln, also zum Beispiel Dinge auslassen oder ihnen weniger Wert beimessen, wenn sie nicht in unsere Erzählung passen. Wir können unserer Erzählung also nicht vertrauen.
Das gilt auch für fiktive Erzähler. Sobald der Erzähler ein Teil der beschriebenen Welt ist, also homodiegetisch, ist er anfällig für Subjektivität und damit nicht zuverlässig. Wir können also, so gesehen, keinem einzigen homodiegetischen Erzähler, vor allem keinem Ich-Erzähler, vertrauen. Also heißt das, dass wir jede einzelne Geschichte mit Misstrauen begutachten lesen und, dass wir sie hinterfragen sollten?
Wenn man jede Geschichte unter diesem Aspekt betrachtet, dann schon. Aber das wäre Wahnsinn. Also nein sollte man nicht, aber dieser Gedankengang führt uns an das Phänomen und die Problematik des unzuverlässigen Erzählens heran.
Laut Wayne Booth, Literaturwissenschaftler und Begründer des folgenden Konzeptes, gibt es im Fiktiven genau zwei Arten von Erzählern: Verlässliche und Unverlässliche. Dass diese Einteilung durchaus problematisch ist, ist hoffentlich bereits klar. Nicht jeder Erzähler, auch wenn er es in der Theorie ist, darf als unzuverlässig gelten. Doch es gibt einige von ihnen.
Ziel dieses Essays soll es sein sich mit diesem Problem zu beschäftigen, den schmalen Grat zwischen verlässlichen und unzuverlässigen Erzählern zu definieren und auch Unterschiede zwischen den verschiedenen Typen der unzuverlässigen Erzähler zu finden.
Die Besonderheit des unzuverlässigen Erzählens, um sie nach dieser langen Einleitung noch einmal auf den Punkt zu bringen, ist schon im Namen erkennbar: Die Glaubwürdigkeit des Erzählers ist nicht unbedingt gegeben. Das Erzählte muss hinterfragt werden, kann falsch, verändert oder in einen falschen Kontext gebracht werden. Natürlich muss hierbei nicht alles Erzählte falsch sein; der Leser muss aber diese fehlende Glaubwürdigkeit beim Lesen im Hinterkopf behalten.
Der am Stärksten ausgeprägte Typ eines unzuverlässigen Erzählers ist auch am Einfachsten zu erkennen. Er ist nicht zuverlässig, denn er lügt (oder hat Grund zu lügen), lässt Geschehen aus und hat so starke inhaltliche Auswirkungen auf die Geschichte. Er verändert also die Geschichte wirklich. Doch auch schon bei diesem stark ausgeprägten unzuverlässigen Erzähler gibt es dramatische Unterschiede.
So kann er beispielsweise mit Absicht lügen, um den Leser hinters Licht zu führen. Das wohl klassischste Beispiel für diesen Typ ist Agatha Christies Roman „The Murder of Roger“, in der wir von einem vermeintlich objektiven Erzähler die Aufklärung eines Mordfalls bekommen, nur um dann am Ende zu erfahren, dass der Erzähler eigentlich wichtige Details ausgelassen hat und deshalb der Mörder ist.
Ein jeder, der als Erzähler bewusst etwas vor dem Leser verbirgt, der das Geschehene bewusst falsch erzählt oder auslegt, der also lügt ist ein stark ausgeprägter, bewusst unzuverlässiger Erzähler.
Aber es gibt auch weitere Typen dieses stark ausgeprägten unglaubwürdigen Erzählers. Solche, die vielleicht nicht mit Absicht unzuverlässig sind oder nicht die Wahrheit erzählen, es aber trotzdem tun. Dafür gibt es vorrangig zwei Gründe: Psychische Reliabilität und Naivität.
Ersterer erzählt die Geschichte genau so, wie er sie wahrnimmt. Nur wird er dabei von seiner fehlenden psychischen Unzuverlässigkeit getrogen. Ich werde als Beispiel mit Fight Club arbeiten, andere Beispiele aber nicht nennen, da sie massive Handlungen Spoilern würden. All jene, die keine Spoiler für Fight Club möchten, sollen bitte den nächsten Absatz überspringen.
Dass Jack und Tyler Durden eigentlich ein- und dieselbe Person sind, ist dem Zuschauer (oder Leser der Bücher) bis zum eigentlichen Ende hin nicht klar. Er erzählt die Geschichte, so wie er sie wahrnimmt, ist damit nicht bewusst unzuverlässig, erzählt uns aber trotzdem nicht die Wahrheit. Denn, Tyler Durden, die extreme Persönlichkeit Jack’s wurde dabei von ihm ausgelagert. So belügt Jack sich die meiste Zeit der Handlung über selbst und, noch viel schlimmer, da wir das Gezeigte aus seinen Augen wahrnehmen, auch uns.
Der zweite der beiden klassischen Typen der unbewussten unzuverlässigen Erzähler, die dennoch stark ausgeprägt sind (also die Handlung beeinflussen), ist der Naive. Auch hier werde ich wieder zu einem Film als Beispiel greifen: Forrest Gump.
Unzuverlässigkeit liegt nur dann vor, wenn die Glaubwürdigkeit des Erzählers während des Lesens von dem Rezipienten (in dem Falle also der Leser) in Frage gestellt wird. Einfache Unwissenheit, die zu falschen Schlussfolgerungen führt, mag also im ersten Moment als unzuverlässig klassifiziert wirken, ist es aber nicht, denn die Glaubwürdigkeit des Erzählers wird von fehlender Kenntnis in keiner Weise beeinträchtigt.
Ich habe bereits etabliert, dass der Rezeptor einer Geschichte über Unzuverlässigkeit entscheidet. Er ist es, der durch seine Beurteilung des Erzählers entscheidet, ob er dem vertraut, was dort steht oder eben nicht. In einigen Fällen ist die moralische Wertvorstellung des Erzählers so weit weg von dem, was der Rezeptor als richtig empfindet, dass er die Glaubwürdigkeit des Erzählers in Frage stellt.
Der Erzähler mag das Erzählte genau so erzählen, wie er es wahrnimmt und trotzdem als unzuverlässig gelten. Es ist wohl das einfachste das an einem Beispiel zu erläutern, dazu werde ich den Roman „Lolita“, geschrieben von Vladimir Nabokov, zur Hand nehmen.
Der Erzähler der Geschichte ist „Humbert Humbert“. In seinem Roman geht es grundlegend um seine Liebe zu einem zwölfjährigen Mädchen: Lolita. Im Laufe der Handlung wird seine Beziehung zu ihr beschrieben, wie er sie für sich gewinnen möchte, wie er probiert erotischen Kontakt aufzubauen und wie er sie dazu bringen möchten zurück zu lieben.
Humbert Humbert ist also ein Pädophiler. Doch er erzählt die Geschichte so, wie sie stattgefunden hat. Trotzdem ist er unzuverlässig, denn er nimmt die Welt anders war, als der Leser. Und, der Leser ist die Kontrollinstanz. Wenn Humbert Humbert sich also immer wieder für sein Verhalten rechtfertigt, wenn er behauptet Lolita würd ihn lieben und wenn er sich Sachen zugutehält, die wir als Leser widerwärtig finden, dann sind das tausende kleine Lügen für uns. Sie finden in dem Geschriebenen, in der Sprache statt und sind ein Resultat des verschobenen moralischem Kompasses des Erzählers.
Ein weiteres Beispiel ist die Netflix Serie „You“, dessen Erzähler ein Stalker ist. Auch er lügt, indem er behauptet er würde die Gestalkte nur beschützten. Er beschreibt sich selbst als Helden, der bereit sei, alles für seine Geliebte zu tun. Das ist wieder die Welt, wie er sie wahrnimmt. Aber, der Zuschauer sieht diese Welt als falsch an, und deshalb wird der Erzähler als unzuverlässig eingestuft.
Der leicht ausgeprägte Erzähler ist also in gewisser Weise auch ein unbewusst unzuverlässiger Erzähler. Humbert Humbert ist sich seiner frevelhaften Taten sogar bewusst. Er weiß, dass andere falsch finden würden, aber er weiß auch, dass er eben ist, wie er ist.
Der letzte Typ an Erzählern ist Opfer genau dessen, was ich am Anfang beschrieb. Ein jeder ist der Held seiner eigenen Geschichte, niemand denkt von sich als böse. Unsere Sichtweise der Welt macht uns alle zu unzuverlässigen Erzählern. Aber in der Literatur werden nicht alle als unzuverlässig klassifiziert.
Es gibt solche, die das Geschehen verdrehen, die es falsch erzählen, ob nun bewusst oder unbewusst. Und, es gibt solche, die Opfer ihres (in unseren Augen) fehlerhaften moralischen Kompasses sind, die die Welt mit anderen Augen sehen.
Erstere als unzuverlässig zu klassifizieren ist leicht. Letztere nicht.
Die schmale Linie zwischen unzuverlässig und zuverlässig ist eine künstliche, vom Leser gezogen. All jene, die zu sehr von unserem eigenen Weltbild, zu sehr von unserem moralischen Kompass abweichen sind unzuverlässig. Wir als Leser bewerten, wir sind das Kontrollorgan. Und, wer nicht in unsere Wertvorstellung hineinpasst, wer sich falsch verhält, wer falsch ist, der ist unzuverlässig.
Denn egal wie sehr er sich bemühte, immer würde dieses Bild seine Gedanken trüben, ihn zu falschen Schlüssen bringen.
Und vielleicht, ganz vielleicht, ist es diese Evaluierung, die uns irgendwo auch unzuverlässig macht.