Tolkiens „Der Herr der Ringe“ war von Anfang ein Erfolg. Sowohl der „Hobbit“ 1937 als auch der „Herr der Ringe“ 1954/55 waren praktisch seit dem Tag ihrer Veröffentlichung ein Hit. Doch zu dem weltweiten Erfolg der Tolkiens Werk heute ist, konnte es unter anderem nur dank rasant steigender Verkaufszahlen in der Mitte der 1960er-Jahre werden. Erstaunlicherweise ist dieser Anstieg zu großen Teilen der gegenkulturellen Jugendbewegung zu verdanken, die wir heute als „Hippies“ kennen. Doch wie kam es dazu, dass das Werk eines streng katholischem, vergleichsweise unpolitischen oxfordischen Professor für Angel-Sächsisches bei dieser politisch motivierten Gegenbewegung so viel Anerkennung fand?
„Gandalf for President“ heißt es auf Anstecken, die die Protestierenden verteilten, andere schmierten „Frodo Lives“ auf Züge und Led Zeppelin oder Pink Floyd, die Popideale der Konterbewegung, singen in vereinzelten Liedern von Gollum und Mordor. Tolkien – oder wohl eher seine Welt – waren ohne es zu wollen, ein Ideal dieser Bewegung geworden.
Wesentlich für dieses doch seltsame Zusammentreffen zweier Welten waren die Umstände. 1965 erschien eine neue Paperback-Ausgabe des Herrn der Ringe in den USA, die von den Hippies, wie auch schon andere Fantasy-Werke, die etwa zeitgleich erschienen (etwa die von H. P. Lovecraft), gefeiert wurde. Dass Tolkiens Werk gefeiert wurde, hat also in erster Linie etwas mit Verfügbarkeit zu tun. Es war zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort billig zu kaufen.
Bestimmt spielte auch Eskapismus eine große Rolle. Wie auch viele andere junge Erwachsene waren auch sie vielleicht von Mittelerde mit dessen vielen Sprachen, der durchdachten Hintergrundgeschichte, der Geographie und Magie begeistert. Ein einfacher Ort wie Mittelerde ist – trotz seines Krieges – in einer Welt des Vietnams-Kriegs, Atom-Bomben und dem Wettrüsten, tröstend und Etwas, in dem man sich verlieren konnte. Der Frieden des Auenlands war etwas, nach dem man sich leicht sehnen konnte. Doch es ist noch mehr, was hinter dieser Faszination steckt, denn Tolkien und die Hippies haben einige Gemeinsamkeiten.
Unter anderem forderten Hippies einen toleranten Umgang mit Drogen, insbesondere von Cannabis und LSD. Vielleicht war es das, wann den „Herrn der Ringe“ anfangs so attraktiv machte. Immerhin spricht direkt das erste Kapitel von dem halluzinogenen, berauschendem Pfeifenkraut der Hobbits, von dem auch Gandalf ein großer Fan war. Auch Pilzen waren die Hobbits nicht abgeneigt. Und, später trinken die Hobbits vom Wasser der Ents, dass Pippin wachsen lässt.
Das alleine reicht jedoch nicht aus, um Sprüche wie „Frodo Lives“ oder „Gandalf for President“ zu erklären. Ein weiteres Thema, mit dem die Jugendbewegung sympathisieren konnte, ist das der Naturliebe, wie die Hobbits und – stärker noch – die Elben verkörpern.
Hinzu kommt die starke Opposition gegenüber der Fortschrittsliebe, die auch in den Kreisen der Konterkultur wiederzufinden war. Damit meine ich das generelle Verständnis der Gesellschaft, dass Fortschritt immer etwas Gutes, Erstrebenswertes ist. Die Hippies waren aber anderer Meinung, so auch Tolkien. ‚Fortschritt im Einklang mit Nachhaltigkeit‘, wünschten sich beide. Einige Mitglieder der Konterkultur griffen zum Beispiel nur auf selbst Angebautes zurück oder lebten in großem Einklang mit der Natur. Das größte, was im Auenland an Maschinen zu finden ist, sind Windmühlen. Auch die anderen großen Nationen griffen nicht auf komplizierte Technik zurück. Es sind Naturelle Materialien: Metalle, Stein und Holz. Sauron und seine Anhänger – allen voran Saruman – symbolisieren als Gegenstück mit ihren zerstörerischen Maschinen all das, was die Konterkultur an dem technischen Fortschritt störte.
Es gibt jedoch noch weitere Themen, die im „Herrn der Ringe“ aufgeführt werden und mit denen die Konterkultur sich identifizieren konnte. Der Herr der Ringe mag vielleicht heutzutage nicht mehr für seine starken Frauen bekannt sein und auch Tolkien mag kein bekannter Feminist sein, Charaktere wie Eowyn verkörpern aber genau das. Ihre Einstellung zum Leben, ihre Stärke und ihr Mut, gegen die patriarchale Gesellschaft aufzudrängen, waren Etwas, dass mit den Hippies resonierte.
„Was fürchtest du, Jungfrau?“, sagte er [Aragorn].
„Den Käfig“, sagte sie [Eowyn]. „Immer hinter Gittern zu sitzen, bis Gewohnheit und Alter jede Aussicht und selbst den Wunsch, Heldentaten zu leisten, unwiderruflich zunichte machen.“
Der Herr der Ringe. Tolkien.
Am Ende des „Herrn der Ringe“ ist Frodo beinahe ein Pazifist. Er war fast nicht bereit, noch ein letztes Mal zu kämpfen, zur Befreiung des Auenlands, das Saruman unterjocht hatte. Ein Auslöser der Konterbewegung war das unnötige Sterben vieler im Vietnam-Krieg. Man war den Krieg müde. Vielleicht konnten Hippies sich deshalb mit Frodo identifizieren. Im „Herrn der Ringe“ wird von diesem letzten Ring auch als „Krieg, der alle Kriegen beenden wird“ gesprochen. Auch diese Vorstellung einer friedlichen Welt ist ein Ideal, das die Völker Mittelerde’s und die Hippies gemeinsam haben.
Trotzdem ist das Werk Tolkiens kein pazifistisches, wie auch er selbst keiner war. Frodo war bereit zu kämpfen, wenn es um die Befreiung seiner Heimat ging. Und, dieser Krieg führte auch nicht zu noch mehr Schrecken, sondern brachten den Hobbits das Auenland wieder, wie sie es kannten. Friedlich, idyllisch und ruhig. Auch Tolkien sah ein, dass es nötig war, zu kämpfen. Er sah die Nazis als eine Gefahr, ein böses Übel, das nur durch Krieg besiegt werden konnte und musste. Im Gegensatz zu der damals typischen britischen Meinung idealisierte er jedoch die Kriegsführung nicht, sondern wusste um ihre Makel.
Eine letzte Möglichkeit der Erklärung liegt in der Geschichte vergraben. Ein zentrales Motiv der „Herrn der Ringe“ ist, dass kleine Leute großes bewirken können. Es sind nicht Elben, Zwerge oder Menschen, die den Großteil der Gefährten stellen, es sind Hobbits. Und, den letzten Teil ihrer Reise gehen Sam und Frodo allein. Diese kleinen Leute, die sonst nicht viel im Weltgeschehen beitragen, schaffen es, Mittelerde vor der Versklavung zu bewahren.
Sie wachsen an ihren Taten und ihre letzte Prüfung; Eine, die sie komplett alleine bewältigen müssen, ist die Befreiung des Auenlands. Sie treiben Saruman fort und bringen Frieden. Für sich, für das Auenland und für ganz Mittelerde.
Und diese Geschichte gab er Konterkultur Kraft. Sie zeigte, dass auch sie – nicht als große Gruppe, sondern jeder Einzelne von ihnen – die Welt verändern konnten. Wie ein Hobbit.
Es ist nun vielleicht verständnisvoller geworden, wie das Werk Tolkiens zu einem großen Phänomen in den Kreisen der Konterkultur werden konnte. Tolkien und die Hippies haben mehr gemeinsam, als man auf den ersten Blick vermuten lässt. Doch bis jetzt ist diese Beziehung eine einseitige. Hippies vergöttern die Charaktere Tolkiens. Wie aber stand Tolkien dazu?
Es ist keine gewagte These zu vermuten, dass dieser ruhige katholische Professor sich nicht wirklich mit der jungen, radikalen Konterkultur identifizieren konnte
„Many young Americans are involved in the stories in a way that I’m not“, sagte Tolkien wohl so, als er über die Hippies sprach, die er „my deplorable cultus“ nannte. Das, was die jungen Leser in seinem Epos sahen, war etwas, dass er sehen konnte. Er verstand es nicht. Er gab dennoch zu, dass es ihm schmeichelte: „even the nose of a very modest idol […] cannot remain entirely untickled by the sweet smell of incense!“
Die Fan-Liebe wurde jedoch so intensiv, dass Tolkien letztendlich seine Nummer aus dem öffentlichen Telefonbuch streichen lassen musste und sogar noch Bournemouth zog. Theoretisch sollte es ihn jedoch nicht groß gestört haben. Tolkien selbst schreibt, dass er ein Freund von der Freiheit des Lesers überlassener Anwendbarkeit.
Was ihm nicht gefiel, waren hingegen all jene, die sein Werk als eine Allegorie für den Kampf gegen Kommunismus oder Kapitalismus, den Ersten Weltkrieg oder etwas Ähnliches sahen. Auch war das Buch keine Allegorie für all die Probleme, welche die Konterkultur ansprach. Tolkien war kein Teil der Konterkultur. Sein Werk beinhaltete keine Allegorien. Das, was die Konterkultur tat, liegt wohl auf dem schmalen Grat zwischen dieser Anwendbarkeit und dem Missbrauch eines Werkes für politische Zwecke.
Heute würde niemand mehr Tolkien und die Hippies in Verbindung bringen. Er motiviert uns nicht auf die Straße zu gehen und für unsere Ideale und den Fortschritt – den sozialen, nicht den technischen – zu kämpfen.
Ich habe lange darüber nachgedacht, ob es nicht doch etwas Schlechtes ist wie die Konterkultur „Tolkiens“ Werk behandelte. Denn indem sie Sprüche wie „Gandalf for President“ oder „Frodo Lives“ benutzten, politisierten sie es gegen seinen Willen. „Der Herr der Ringe“ greift viele Themen auf, aber er ist nicht politisch. Ich habe mir deshalb die Frage gestellt: „Ist das Missbrauch?„. Und, ich denke auch ihr solltet euch diese Frage stellen. Im Laufe der Geschichte ist es mehrere Male vorgekommen, dass Kunst zugunsten politischer Interessen missbraucht wurde.
Ich bin jedoch zu meinem Ergebnis gekommen, hier war das nicht der Fall.
Die Bewegung konnte sich mit den Figuren identifizieren und machte das auch deutlich. Sie warf dem Werk aber nie – höchstens indirekt – eine politische Haltung vor. Sie missbrauchte es nicht, sie tat genau das, was wir auch tun. Jeder kann Kraft in einem Werk finden und sich mit Charakteren identifizieren. Das tue ich auch, wenn auch in einem kleineren Maße.
Ihr Verhalten ist deshalb für mich akzeptabel. Ja, es macht mich sogar stolz, nicht wegen dem, was die Hippies indirekt erreicht haben; sondern weil es zeigt, wie mächtig auch Fantasy sein kann.
Deshalb finde ich, dass wir uns von den Hippies etwas abschauen können. Ich sage nicht, dass es an der Zeit ist Tolkien wieder in diesem Maße zu politisieren – auch, wenn es interessant ist, dass junge Menschen heute wieder für ganz ähnliche Ideale auf die Straße gehen.
Aber, wenn ihr das nächste Mal nach dem „Herrn der Ringe“ greift, dann denkt daran, dass dieses Buch einst eine ganze Generation inspirierte. Denkt daran, dass es sie dazu brachte zu kämpfen und sie in ihren – doch sehr noblen – Idealen bekräftigte. Und, findet das, was sie faszinierte und begeisterte und erlebt es. Denn der „Herr der Ringe“ und auch Fantasy im Allgemeinen ist eben doch mehr als das Klischees.